Donnerstag, 9. Dezember 2010

Timothy Snyder: Bloodlands - und vielleicht ein neuer Historikerstreit

Mitte Oktober las ich die ersten englischsprachigen Rezensionen des Buches "Bloodlands" von Timothy Snyder. Das Buch betrachtet die Massenmorde der beiden totalitären Regime unter Hitler und Stalin nicht für sich getrennt, sondern in einem Zusammenhang, und das vor allem in geografischer Hinsicht. In einem Gebiet, das etwa Polen, Weißrußland, die Ukraine und daran angrenzende Gebiete umfaßt, sind von 1933 bis 1945 etwa 14 Millionen Menschen umgebracht worden, die direkten Kriegstoten nicht mitgerechnet. Snyder nennt dieses Gebiet "Bloodlands".


Ich wunderte mich, daß ich per Google-News nicht schon bald deutschsprachige Erwähnungen des Buches fand, und eigentlich hatte ich vor, einen ersten Kommentar zu diesem Buch zu schreiben. Ich weiß zwar nicht, ob ich von Google gefunden wäre, aber für den persönlichen Ehrgeiz wäre das ein Ziel gewesen. Das habe ich nun leider knapp verpaßt, am 29. November war die erste Erwähnung des Buches zu finden, und am 6.Dezember gab es im Wiener Standard ein Interview mit dem Autor. Beides sind aber österreichische Seiten, bundesdeutsch kann ich es noch schaffen (wenn ich eine .de-Domain hätte, könnte man sich noch ein bißchen mehr dran hochziehen).


Nach ein paar Rezensionen des Buches hatte ich sehr den Eindruck, daß es in den nächsten Wochen, oder zumindest nach dem Erscheinen auf Deutsch, auf große Resonanz stoßen würde. Denn durch mehrere Sichtweisen des Buches  wurde ich an den Historikerstreit erinnert, der 1986 heftige Wellen schlug. Kurz gesagt ging es in diesem Streit darum, ob der Holocaust einmalig ist oder nicht, und ob er möglicherweise eine Reaktion auf eine "asiatische Tat" war (Ernst Nolte, die genaue Fundstelle werde ich noch nachreichen, ich habe gerade den Sammelband "Historikerstreit" im Regal oder an den verschiedenen Leseplätzen der Wohnung verschusselt. War aber ein tolles Gefühl, da mal wieder gezielt reinzuschauen und etwas Verwendbares zu finden). Allein schon der Vergleich des Holocaust mit den "Säuberungen" Stalins, mit dem Gulagsystems oder der Hungerkatastrophe der Ukraine war damals für viele ein Akt des Revanchismus. Und auch die Verwendung des Begriffs Totalitarismus erschien vielen (ja wem denn genau, vielleicht den Linken und eher linken Feuilletonisten) als Gleichsetzung zweier ganz unterschiedlicher Systeme, mit dem Ziel, das linke System, das die Welt verbessern wollte, zu diskreditieren. Snyder benutzt nun den Begriff Totalitarismus ziemlich häufig. Und dieser Begriff kam mir bei der Perlentaucherlektüre auch wieder unter: Alan Posener schrieb in der Welt einen Artikel, daß das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung am besten geschlossen werden sollte, weil es eine dicke Stasi-Affäre zu bewältigen hat, aber vor allem an einem verlogenen Konzept leide. Das Institut sei "mit dem Ziel gegründet, den ohnehin fragwürdigen Begriff des Totalitarismus auf die "zweite deutsche Diktatur" auszudehnen." Ein paar Tage später antwortete ihm der Chefredakteur der Welt-Gruppe, Thomas Schmidt, daß Totalitarismus nicht nur ein Wort sei, sondern immer noch ein sinnvoller Begriff mit ehrenwertem Anspruch. Vielleicht führen anderen diesen kleinen Streit um den Totalitarismus-Begriff noch weiter.


Timothy Snyder rüttelt nun keineswegs an der Einmaligkeit des Holocaust, das erwähnt er ausdrücklich. Aber Snyder will daraufhin weisen, daß Auschwitz nicht der ganze Holocaust gewesen ist. Die Hälfte der Juden Osteuropas wurde durch Erschießungen umgebracht. Und Auschwitz erhält seine Bedeutung dadurch, daß es Überlebende gegeben hat. In Treblinka wurden mindestens 700.000 Menschen umgebracht, und es gab so gut wie keine Überlebenden, die von ihrem Leid erzählen konnten, ähnlich war es bei den Lagern Sobibor und Belzec.  Von diesen Lagern ist so gut wie nichts übrig geblieben, es gibt keine Baracken, keinen Zaun oder ein Eingangstor.


Die Juden waren außerdem nicht die einzige verfolgte Gruppe. Snyder weist auf 3 Millionen Sowjetsoldaten hin, die in deutschen Lagern erschossen wurden oder dem Hungertod starben. Der Hungertod bedrohte auch die Bevölkerung der Ukraine und Weißrußlands, weil vor allem die Ukraine als Kornkammer für das Deutsche Reich dienen sollte und das leere Land später von deutschen Siedlern bewirtschaftet werden sollte. Wenn es unter diesen Gruppen Überlebende gegeben hat, dann verblieben sie nach 1945 in der Sowjetunion. Für Stalin galten alle Völker, die in Kontakt mit dem Feind gestanden hatten, als verdächtig und wurden teilweise deportiert, und außerdem war niemand an ihrem Schicksal interessiert. Sie konnten keine Bücher veröffentlichen oder ihr Schicksal in anderer Form bekannt machen. Snyder weist in seinem Buch darauf hin, daß die ethnischen Russen nicht so heftig unter dem Krieg gelitten haben. Dies waren innerhalb der Sowjetunion vor allem die Ukrainer und die Weißrussen, auch die baltischen Staaten. Die Hälfte der Bevölkerung Weißrußlands wurde in dieser Zeit gewaltsam ums Leben gebracht. Und was für den Holocaust Auschwitz ist, nämlich ein sichtbares Symbol, bei dem die (wenn auch geringe) Chance bestand, es zu überleben, war auf sowjetischer Seite der Gulag, der unter anderem von Solschenizyn beschrieben wurde. Der Holomodor hingegen, der Genozid in der Ukraine, ist viel weniger dokumentiert und bekannt geworden.


In einer Rezension (ich habe das Buch ja noch gar nicht lesen können) wurde auf die Einsatzgruppen hingewiesen, die bis Ende 1941 eine Million sowjetische Juden erschossen hatten. Bei längerem Nachdenken fiel mir dazu eine Veranstaltung während meiner Schulzeit ein, deren Anlaß oder Thema ich gar nicht mehr erinnere. Aber in einem kurzen Gespräch nach dem Vortrag sagte ein älterer Herr, der zu der Veranstaltung gehörte, sinngemäß: "Ob sie erschossen oder vergast werden, das ist auch egal." Er meinte damit wahrscheinlich eher die stalinistischen Opfer der Säuberungen, die überwiegend erschossen wurden, im Gegensatz zu den Juden, die vergast wurden. Seine Absicht war, die Besonderheit  der maschinellen Vernichtung, und damit die Einmaligkeit des Verbrechens, die er nicht anerkennen wollte, zu relativieren. In meiner Schulzeit war ich noch nicht in der Lage darüber nachzudenken, das kam erst im Studium, aber ein Satz von Ernst Nolte, den ich früher nicht akzeptabel fand, erscheint mir jetzt nicht mehr so abwegig. Nolte schrieb nämlich während des Historikerstreits, daß die maschinelle Vernichtung eher ein Detail sei und nicht das Wesentliche. Mir scheint nun auch eher der ungebremste und überschäumende Vernichtungswille der Nazis das Allerwesentlichste zu sein, und nicht die Technik des Tötens. Was aber nichts daran ändert, daß diese Abscheulichkeit von den Deutschen eingesetzt wurde.


Auch die kumulative Radikalisierung, die Hans Mommsen vertritt, erscheint mir nicht mehr als die beste Erklärung für die Geschehnisse, als die sie mir bisher erschien. Wenn in so kurzer Zeit so viele Menschen ermordet werden, dann muß eine Bereitschaft bestehen, so zu handeln, wie gehandelt wurde. Ich muß aber zugeben, daß ich noch keinen Aufsatz vom ihn dazu gelesen habe und nicht weiß, welche Zeiträume Mommsen für diese Radikalisierung ansetzt.


Snyder geht in einem Artikel, den ich von ihm gelesen habe, auf die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ein und stellt die Zahlen vor, die er für richtig hält. Die Zahlen finde ich gerade nicht, aber nach der Lektüre der Rezensionen und anderer Artikel von Snyder hatte ich das dringende Bedürfnis, von der deutschen Vertreterin der Vertrieben, Erika Steinbach, nur ganz leise und wohlgesetzt Töne zum Thema Vertreibung zu hören, und keine Entschädigungsforderungen, so symbolisch sie auch sein mögen. Ich will das Leid der Vertriebenen nicht kleinreden, aber es gibt eine Vorgeschichte dazu. Und von der handelt "Bloodlands".


Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Posting irgendeinen hilfreichen Gedanken jenseits der bloßen Erwähnung des Buches geleistet habe. Es gibt aber so viele Anknüpfungspunkte, daß ich eigentlich mehr Zeit zum Ausformulieren und zum Belege angeben aufwenden müßte. Die Zeit will ich aber nicht aufbringen, weil ich weiß, daß ich nur eine begrenzte Leserschaft habe, die auch möglicherweise an diesem Thema nicht so brennend interessiert ist.


Ich werde mir das Buch zu Weihnachten wünschen, aber ich weiß noch nicht, ob ich es ganz lesen werde. Ich habe hier absichtlich keine erschütternden Passagen, die in den Rezensionen erwähnt wurden, wiedergegeben. Ich glaube nicht, daß ich dafür die richtigen Worte gefunden hätte, und ein Fehlgriff wäre mir zu schrecklich vorgekommen.


Es ist schön, so viele Anknüpfungspunkte an Seminare aus dem Studium, an Bücher, die ich gerade gelesen habe (Michael Klonowsky, Land der Wunder) und an komplizierte Theorien zu finden. Und in der Hauptsache geht es darum, eine Vorhersage zu machen, die nachher auch überprüft werden kann (daß dieses Buch eine große Resonanz finden wird, und man auch Bezüge zum Historikerstreit aufstellen wird).  Aber eigentlich fällt das auch in die Kategorie überflüssiges Wissen. Vielleicht werde ich noch nachlesen, wie ich mein Blog in den Rankings nach vorne bringen kann, aber vielleicht komme ich nicht dazu, und vielleicht ist mir das auch eine Nummer zu groß.


Falls jemand sich einlesen will:

(Ein deutschsprachiger Artikel von Timothy Snyder: Sehr lesenswert.)

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